Von Kay Karpinsky
NORMAL – Eine Besichtigung des Wahns
Wer einen entspannten Abend mit gepflegter Unterhaltung sucht, ist hier falsch. Die szenische Lesung von Ebermann, Mense und Thamer schont niemanden, auch nicht das Publikum. Die Lage ist zu ernst für Belanglosigkeiten, stattdessen zwingen sie uns, hinzuschauen und hinzuhören, auf jenen Dreiklang aus Wahn, Vernunft und Normalität, von denen wir hier erfahren müssen, wie dicht diese drei beieinander liegen.
Zunächst den Wahn zu verspotten fällt uns noch leicht, wobei auch hier schon die Beispiele mit Bedacht gewählt sind. Unser Landesgesundheitsminister vom grünen Homöopathieflügel etwa ist präsent, ohne dass er namentlich genannt werden musste.
Die Vernunft zu verspotten fällt auch leicht, doch Fremdscham bedrängt uns hier schon mehrfach in unangenehmer Weise. Die instrumentelle Vernunft steht, in vielfachem Stakkato von den übelsten Gestalten bemüht, am Ende entkernt als der jämmerliche Bullshitbegriff da, der sie ist.
Die Vernunft adressiert das Individuum und das macht sie besonders geeignet für eine Zusammenstellung wie diese, die überlegt aus Einzelvorträgen, szenischen Dialogen, wissenschaftlicher Einordnung und zahlreichen Einspielern komponiert ist. Wo der Inhalt an sich wenig Entspannung verspricht, muss also die Form gewährleisten, dass das Publikum in der gut zweieinhalbstündigen Aufführung nicht den Anschluss verliert. Nebenbei trägt jene Form auch dazu bei, dass Thomas Ebermann seinen über die Jahre ramponierten Stimmbändern die nötigen Pausen gönnen kann.
Im dritten Akt nehmen sich Mense, Ebermann und Thamer schließlich der „Normalität“ an, oder besser des Normalismus, was deutlicher ausdrückt, dass wir es hier mit einem rechten Ideologiebegriff zu tun haben. Und so sind wir auch überhaupt nicht überrascht, dass der eine im historischen Maßstab ziemlich neue Erfindung ist – in etwa so jung wie der bedingungslose „Fortschritt“, der hier auch noch gut hineingepasst hätte, wäre dann genug Zeit dafür gewesen.
Als Beispiel für das Postulat der Normalität wird uns unter anderem die entscheidende Passage aus Martin Walsers Paulskirchenrede ungefiltert eingespielt. Es ist einer dieser Momente, die wir nur ertragen, weil wir uns in der Gesellschaft eines größeren Publikums befinden, umgeben von Menschen, die an dieser Stelle ähnlichen Abscheu empfinden. Dieses Publikum am Ende einfach inmitten des zuvor sorgsam ausgebreiteten Elends zurückzulassen, schien dann aber doch zu viel. Und so schließen Ebermann und Mense in dem klar geäußerten Wissen, keine Patentlösungen für die Beseitigung jenes Elends anbieten zu können, doch mit Vorschlägen, wie Menschen, denen das alles zuwider ist, zumindest im eigenen Umfeld und im persönlichen Umgang mit Beispielen für Solidarität und Humanität etwas dagegenhalten können. Leider sind sie damit der Habeck’schen „Zuversicht“ näher, als ihnen selbst vermutlich lieb ist, und deswegen entfaltet dieser Abschluss auch nur mäßige Wirkung.
Denn einen entspannten Abend mit gepflegter Unterhaltung hatten wir hier eben nicht.
Kay Karpinsky